Ein weiteres Interview über die Rahmenbedingungen zur Rekrutierung von Pflegefach- und Betreuungspersonen in der Schweiz führte Katharina Molterer am 12.07.2022 mit Heidrun Gattinger, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaften an der Ostschweizer Fachhochschule.
Empfehlungen bei der Rekrutierung von Pflegefachpersonen
Ausgehend für welche Tätigkeit ich die Personen benötige, muss ich mir als Arbeitgeber:in sehr klar sein über die Kompetenz, die ich brauche, um das passende Personal zu finden. Zudem spielt die fachliche Eignung adressiert auf die Zielgruppe, die man versorgt, sowie die Persönlichkeit der Kandidatin eine grosse Rolle. Wichtig ist auch die Passung ins Team, denn in der Pflegearbeit ist je nach Setting mehr oder weniger Teamarbeit gefragt. Zusammenfassend würde ich sagen, bei der Rekrutierung sind die drei Faktoren wesentlich: fachliche Kompetenz, Persönlichkeit und Teamfähigkeit.
Gibt es einen Unterschied in der Rekrutierung für Institution vs. Häuslichkeit?
Für die häusliche Pflege müssen die Pflegenden ein breites und tiefes Wissen haben, gerade weil sie auf sich allein gestellt sind. Beispielweise müssen Sie medizinische Situation sehr gut einschätzen können, um danach entscheiden zu können, ob sie die notwendigen Massnahmen treffen oder ob sie den Hausarzt kontaktieren bzw. welche anderen Dienste involviert werden müssen. Sie brauchen daher eine hohe fachliche Kompetenz und ein eigenständiges Arbeiten. Die Persönlichkeitsentwicklung ist wichtig, weil wenn man mit Klient:innen zuhause arbeitet, ist normalerweise der Status der Autonomie ein höherer, da sich diese Klient:innen nicht so leicht in die Patientenrolle begeben. Du bist als Pflegefachperson bei ihnen Gast und bist Dienstleisterin und musst das auch gut unterstützen können. Es gibt Pflegepersonen, die gerne in diesem Setting arbeiten. Die, die neu in diesem Setting sind, müssen gut unterstützt werden, weil sie sich weiterentwickeln müssen. Spitex und häusliche Pflege hat andere Anforderungen als Institutionen. Hier geht es um selbstständiges Arbeiten vs. sich alleine und überfordert fühlen, weil man nicht sofort die Kollegin fragen kann. Im Spital teilt man die oder kann sie gut abgeben. In der Häuslichkeit muss man plötzlich selbst gut eine Diagnose stellen können. Die Autonomie in der klinischen Entscheidungsfindung ist hier höher als im stationären Setting.
Herausforderungen bei der Rekrutierung
Generell ist die grösste Herausforderung der Fachkräftemangel, es sind zu wenig Pflegepersonen da, vor allem auch die höher ausgebildeten. Wenn man mehr FH-Absolventen haben wollen würde oder eine Pflegeexpertin mit Master-Abschluss, ist der Markt ausgetrocknet. Es ist auch schwierig die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Pflegefachpersonen bleiben. Zum Teil sind die gesetzlichen Vorgaben schwierig. Gerade bei der Spitex haben wir das Problem einer hohen Bürokratisierung, so müssen die pflegerischen Leistungen im fünf Minuten Takt abgerechnet werden. Die Pflegeperson selbst erlebt das nicht nur als Leistungsabrechnung, sondern auch als Kontrolle, Zwang und Einengung im eigenen professionellen Handeln. Du machst im Voraus eine Planung, natürlich kannst du sie ändern, aber das ist ein bürokratischer Aufwand, weil du bei der Versicherung begründen musst, warum du mehr Zeit für Tätigkeit xy brauchst. Eigentlich macht gerade die Unplanbarkeit die Pflege aus, man muss auf die Anforderungen der jeweiligen individuellen Situation eigenen können und dann kann es sein, dass anstelle der Körperpflege ein Gespräch oder eine Schulungsmassnahme sinnvoller ist. Das System kontrastiert das. Wir trimmen die Pflegenden in der Ausbildung so darauf die Situation und Individualität wahrzunehmen und situativ zu handeln, aber das System drängt in eine ganz andere Richtung. Damit kommen die Pflegenden oft in schwierige Dilemmata, was zu «moral distress» führen kann.
Das ist das System, welches es schwierig macht, dass Pflegepersonen gern und ihrer Tätigkeit sinnvoll nachgehen und arbeiten können. Sehr innovative Spitexformen haben da vielleicht schon ein bisschen kreativere Lösungen gefunden, wie man damit umgeht. Aber da benötigt es schon eine grosse Innovationskraft von den leitenden Personen, um diese Rahmenbedingungen zu ändern.
Was wichtig wäre sind Investitionen in Weiterbildung und Kompetenzentwicklung. Pflegepersonen in diesem Bereich kommen schon auch oft in Grenzsituationen, in denen sie überfordert sind. Da muss man in der Organisation schauen, dass man im Rücken einen guten Support hat. Das heisst, man muss Fachleute im Hintergrund haben, die immer wieder schauen, wie gehe ich z.B. mit Substanzabhängigkeit, Aggressionsereignissen, oder auch körperlich sehr belastenden Situationen um. Die Privathaushalte sind nicht so eingerichtet, wie im Krankenhaus, wo man als Pflegende alle möglichen Hilfsmittel zur Verfügung hat. Selbstständige Pflegende sind dahingehend schon Einzelplayer. Ich weiss nicht, inwieweit sie sich fachlich innerhalb vom Verband unterstützen. Das ist bestimmt eine Herausforderung auch bei Plattformen wie HEROES und der Selbstständigkeit. Innerhalb einer Organisation habe ich den Support und es findet gemeinsames Lernen statt. In der Selbstständigkeit musst du dir das alles selbst organisieren.
Schutz des Pflegepersonals
Es gibt im Pflegeberuf körperliche und psychische Herausforderungen und Risiken: Die körperliche Belastung ist in der Pflege generell gross – 65% der Pflegenden haben in ihrem Berufsleben arbeitsbedingte Rückenschmerzen. Die häufigste Ursache dafür ist die Unterstützung von Patient:innen, z.B. bei einem Transfer aus dem Bett in einen Rollstuhl. Vor allem in der häuslichen Pflege sind oft schwierige Rahmenbedingungen, z.B. ist das Bad sehr klein oder es sind keine passenden Hilfsmittel vorhanden. Man kann den Klient:innen nicht anordnen, dass sie sich Hilfsmittel kaufen sollen. Psychisch kann der Beruf auch belastend sein, z.B. wenn man mit kognitiv eingeschränkten Menschen arbeitet, die einen nicht in die Wohnung reinlassen oder wenn verbale und körperliche Attacken erfolgen. Bei Überforderung, häufig gepaart mit fehlender Ausbildung, kann es auch zu Übergriffen von der Pflegeperson kommen. Die Schwierigkeit in der häuslichen Pflege ist, dass das nicht beobachtet werden kann und leichter vertuscht wird als in einer Institution.
Kein anderer Beruf kommt einem Menschen so nah, wie eine Pflegeperson es tun kann. Das ist einerseits das speziell Schöne, gleichzeitig benötigt man aber Kompetenzen, damit es schön sein kann. Beispielsweise passieren Aggressionshandlungen häufig bei körpernahen Tätigkeiten. Wichtig ist, dass die Pflegeperson entsprechende Skills und Kompetenzen hat, z.B. wie kann ich eine Person bewegen oder wie kann ich sie gut unterstützen. Wenn das nämlich so gemacht wird, dass sich eine Person nicht überfordert oder manipuliert fühlt, dann kommt es auch weniger zu Aggressionshandlungen.
Schön ist auch, dass man im häuslichen Setting eine Beziehung zu den Menschen aufbauen kann, weil du sie länger betreust.
Schutz der Leistungsempfänger:innen
Ich denke ein Aspekt ist eine formale Ausbildung der Pflegenden, diese gibt einen professionellen Standard vor und gegebenenfalls Zusatzausbildungen. Gerade bei Leistungsempfänger:innen mit besonderen Bedürfnissen oder Krankheiten ist spezifisches Zusatzwissen wichtig. Die Autonomie der Leistungsempfänger muss beachtet werden, die Persönlichkeitsrechte. Das ist ein Knackpunkt beim Modell von HEROES, weil es sehr auf Individualität ausgerichtet ist. Da muss man sich bestimmt überlegen, wie man ein Qualitätssicherungssystem integrieren kann. Eine Art Selbstdeklaration auf Seiten der Pflege und auch die Leistungsempfänger stärken, indem man Sie über ihre Rechte aufklärt. Es wäre sicher wichtig, wenn man dazu Information aufbereiten würde, welche pflegerischen Ausbildungen, welche Zusatzausbildungen gibt es und welche Kompetenzen werden damit erlangt. Und dann auch von der gesetzlichen Lage her, z.B. das Erwachsenen-schutzgesetz aufbereiten. Auf der anderen Seite für die Pflegefachpersonen könnte man einen Code of Conduct oder sowas aufschalten, was man akzeptieren muss bevor man sich registriert. Da könnte man sich an den ICN (international council of nursing) Pflegekondex anlehnen. Das ist der Code of conduct für die Pflege.
Wie unterscheidet sich Rekrutierung Stadt-Land?
Es ist bestimmt etwas schwieriger im ländlichen Bereich, es gibt weniger Leute, die dort arbeiten wollen. Vom Verdienst gibt es kantonal Unterschiede. Dadurch, dass in der Schweiz räumlich vieles sehr nahe liegt, ist es oft kein Problem dort zu arbeiten, wo man mehr verdient. Allerdings ist Lohn nur ein Thema der Arbeitsplatzattraktivität, wenn du mit dem Lohn nicht mithalten kannst, musst du in den anderen Bereichen attraktiv sein, z.B. Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Wichtig ist auch die Pflegeprofession zu stärken, z.B. durch eine Pflegeexpertin im Team, die dazu beiträgt, dass es zu einer Professionalisierung kommt.
Welche Art von Unterstützung kann von den lokalen Behörden gewährt werden? Und welche rechtlichen Voraussetzungen sind erforderlich, um die Zusammenarbeit zwischen Behörden und NGOs zu unterstützen?
Ich glaube, was forciert werden muss, ist eine Vernetzung von Angeboten. Die Selbstständigen müssen besser unterstützt werden von NGOs oder Behören im Sinne der Netzwerkarbeit. Gerade in den ländlichen Bereichen, bräuchte es Stellen, wo Pflegende ihre Fortbildungswünsche eingeben können oder die beim Netzwerkaufbau unter den Pflegenden hilft.
Freiwilligkeit?
Ganz ein wichtiger Punkt. Grad zukünftig gedacht haben wir zu wenig Professionelle. Das könnte eben auch unterstützt werden, auch die brauchen eine Anlaufstelle oder eine Vermittlungsplattform. Freiwillige müssen aber auch gut unterstützt werden, das zeigt die Erfahrung, weil auch hier schwierige Situationen entstehen können.
Vorteile digitale Rekrutierung?
Grundsätzlich ist es bestimmt positiv, vor allem für die jüngere Generation Pflegender ist das selbstverständlich und entspricht dem Trend der Zeit. Es kommt auch auf die Prozesse dahinter an. Qualifikation ist ein wichtiger Punkt, den man berücksichtigen sollte. Ein Persönlichkeitsmatch wäre noch interessant. Sicher ist es eine professionell Pflegende und nichtsdestotrotz kann man ja nicht mit jeder Person.
Weiterführende Links:
The ICN Code of Ethics for nurses
SBK Informationen zur Freiberuflichen Pflege (information for self-employed nurses in Switzerland)