Für das Projekt HEROES ist es besonders wichtig, auch länderspezifisch die Rahmenbedingungen und Herausforderungen bei der Rekrutierung von Pflege- und Betreuungspersonal zu verstehen und zu kenne. Katharina Molterer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule, führte dafür am 16.06.2022 ein Interview mit Frau Edith Wohlfender, der Geschäftsleiterin des Schweizerischen Berufsverbands Pflege (SBK) in St.Gallen. Die wichtigsten Aussagen und Antworten auf die gestellten Fragen, werden im Folgenden aufgeführt und zusammengefasst:
Herausforderungen und Empfehlungen bei der Rekrutierung von Pflegefachpersonen
Die aktuelle Herausforderung bei der Rekrutierung von Pflegefachpersonen in der Schweiz ist, dass zu wenig Personal vorhanden ist. Auch der Zustrom aus Deutschland und Österreich ist nicht mehr so gross wie früher. Zusätzlich steigen viele Pflegende in der Schweiz aus dem Beruf aus, man weiss aber nicht genau warum. Frau Wohlfender nimmt an, dass einige kündigten, weil das Reisen nach zwei Jahren Pandemie wieder möglich geworden ist. Durch den Mangel an Pflegefachpersonen können Institutionen unbezahlte Urlaube nicht mehr vertreten und als Konsequenz kündigen viele Pflegefachpersonen, weil unbesetzte Stellen zu Mehrbelastungen führen. Andere steigen aber auch aus dem Beruf aus und wechseln in eine vollkommen andere Branche. Das sieht Frau Wohlfender als grossen Verlust: «Hier müssen wir alles daran setzen und versuchen die Leute zu halten.» Auf der anderen Seite arbeiten viele Pflegende für Temporärfirmen, was Frau Wohlfender als kritisch erachtet, denn viele Pflegende stellen später in der Rente Lücken fest oder sind bei Unfall oder Krankheit nicht genügend gut abgedeckt.
Wichtig sind diesbezüglich die Forderungen der Pflegeinitiative, die sich für bessere Arbeitsbedingungen für Pflegende einsetzt. Das fängt bei regelmässigen Dienstplänen an, bei besser bezahlter Sonntagsarbeit, Schicht- und Nachtdienst. Die Arbeitgebenden sollen sich jetzt um Verbesserungen diesbezüglich kümmern, auch in ihrem Interesse, um das Personal zu halten. In diesem Zusammenhang spielen Themen wie Lohn, Sozialversicherungsleistungen und Entwicklungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Durch den Pflegefachpersonenmangel ist der Wiedereinstieg in den Pflegeberuf einfacher denn je. Interessierte Pflegende finden auch als Wiedereinsteigene schnell einen Job. Wichtig ist, dass sie sehr gut im Wiedereinstieg begleitet werden. Neben den beruflichen Qualifikationen wird es für Arbeitgebende immer wichtiger sein, auch den Menschen hinter den Bewerbungsunterlagen zu sehen.
Schutz Pflegepersonal
Das Pflegepersonal wird durch gewisse Reglementationen im Arbeitsgesetz in der Schweiz geschützt. Dazu gehört, dass jede Arbeitsnehmerin einen Vertrag bekommt, in dem das Minimum, wie Arbeitsstunden und Lohn festgehalten werden. Zudem gibt es eine obligatorische Versicherung, wie die Unfallversicherung, die man abschliessen muss. Eine Krankentaggeldversicherung wiederum ist nicht gesetzlich verpflichtend. Als Arbeitnehmerin lohnt es sich die Versicherungsleistungen gut zu studieren. Die Arbeitgebenden haben eine Fürsorgepflicht. Sie sind dafür verantwortlich die Angestellten nicht zu überfordern und ihnen kompetenzgerechte Aufgaben zu delegieren. Der kompetenzengerechte Einsatz ist wiederum eine Forderung in der Pflegeinitiative.
Schutz Leistungsempfänger:innen
Das wichtigste ist, dass die Pflegenden gut ausgebildet sind, welche sie befähigt spezifisch mit den Leistungsempfänger:innen umgehen zu können. Dies ist auch ein Schutz vor Überbelastungen. Gute Pflege bedarf klaren Vereinbarungen. Stellt eine Privatperson eine Pflegende an, so steht sie in der Verantwortlichkeit und hat gegenüber der angestellten Person eine Fürsorgepflicht. Das heisst, der Schutz der persönlichen Integrität muss gewährt sein.
Sicherstellung der Qualität von Dienstleistungen
Eine klare Rollenverteilung im Prozess der Pflege ist wichtig. Der Stellen- bzw. Aufgabenbeschrieb muss deutlich machen, wer in einer Pflegesituation wofür verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang geht es wieder um die Kompetenzen, dass eine leistungserbringende Person wirklich innerhalb ihrer Kompetenzen tätig ist. Es gibt hier klare Vorgaben, welche Ausführungen eine Hilfskraft oder eine dipl. Pflegefachperson erbringen darf. Frau Wohlfender empfiehlt grundsätzlich, wenn eine Betreuungsperson involviert ist, immer die Spitex in das Pflegesetting einzubinden, weil diese Mitarbeitenden geschult sind und kompetenzegerecht arbeiten. Zudem können sie Missstände wahrnehmen. Dies wäre ein Schutz der Betreuenden Person und auch der Pflegeempfänger*in. In Bezug auf die Finanzierung ist es empfehlenswert, die Pflegeleistungen durch die Spitex erbringen zu lassen und die Betreuung und Begleitung durch eine sogenannte CareGiver*in.
Unterschied Rekrutierung von Pflegefachpersonen zwischen Stadt und Land
Der Pflegefachpersonenmangel ist nicht markant unterschiedlich zwischen Stadt und Land. In der Beobachtung von Fr. Wohlfender, ist nicht nur die Region was die Pflegenden abhält, sondern eher die veralteten Strukturen oder Institutionen, in denen keine optimalen Prozesse möglich sind, aufgrund der mangelnden Infrastruktur, wie z.B. fehlende PCs. Fr. Wohlfender plädiert dafür durch flexible Dienstzeitmodelle ländliche Regionen attraktiver zu machen. Ideen aus einer anderen Dienstleistungsfirma sind z.B. den Sportler*innen möglichst gute Trainingszeiten zu gewähren oder den Müttern die Arbeitszeiten an die Stundenpläne anzupassen. Fr. Wohlfender sieht starre Dienstzeitmodelle kritisch: «Manche Bewohnenden können doch auch am Nachmittag um eins geduscht werden, muss ja nicht immer um sieben Uhr morgens sein. Das sind noch so alte Prozesse, die man durchaus aufbrechen könnte.» Dies käme sowohl den Bewohnenden wie auch den Pflegenden zugute. Fr. Wohlfender betont zudem, dass auf diese Weise auch berufstätige Mütter besser integriert werden könnten.
Welche Art von Unterstützung kann von den lokalen Behörden gewährt werden? Und welche rechtlichen Voraussetzungen sind erforderlich, um die Zusammenarbeit zwischen Behörden und NGOs zu unterstützen?
In der Pflege und Betreuung im häuslichen Setting braucht es gemäss Fr. Wohlfender klarere Regelungen, durch die Einführung von Normalarbeitsverträgen. Es gibt einen Normalarbeitsvertrag für Haushaltsangestellte, der noch zu optimieren wäre, da sie sieht, dass er im Moment prekäre Arbeitsverhältnisse zulässt, wie z.B. das Überschreiten von Höchstarbeitszeiten im Rahmen einer 24-Stunden-Betreuung. Wenn Hausangestellte für faire Arbeitsbedingungen und Löhne bestehen, wird seitens Politik befürchtet, dass ein Heimaufenthalt trotzdem als Alternative in Frage kommt. Für den Staat würde das Mehrkosten für die stationäre Langzeitpflege zur Folge haben.
Fr. Wohlfender fordert zwingend bessere Rahmenbedingungen für die berufstätigen Eltern, wie bezahlbare Kitas, Betreuungsplätze und Tagesschulen. Dabei schlägt sie auch vor, dass Arbeitgebende grosser Institutionen inhouse Kitas einführen: «Da könnte man auch attraktive Preise anbieten und vielleicht würden viele Frauen auch höherprozentig berufstätig sein, weil die Fahrt zur Kita wegfällt und sie ihr Kind in der nahen Umgebung in Obhut wissen. Einiges wäre besser steuerbar. Der Bund hat Fördermassnahmen zum Aufbau von Kitas. Mir ist kein Altersheim bekannt in der Ostschweiz mit einer eigenen Kita.»
Wie können mehr Menschen motiviert werden, sich an Hilfsaktivitäten zu beteiligen?
Frau Wohlfender betont zum einen, dass es wichtig ist, dass Menschen sich noch im fitten Alter ein soziales Umfeld aufbauen und hier sieht sie die Politik in der Pflicht das Soziale und den Sozialraum zu fördern. Zudem erwähnt sie verschiedene Vereine und Organisationen, welche freiwilliges Engagement anbieten, wie Benevol, Besuchsdienste der Kirchen, Pro Senectute, usw. Im Freiwilligenbereich sieht sie nur Spannungen, wenn es um pflegerische Tätigkeiten geht, im Betreuungssetting eher nicht.
Haben Sie bereits Erfahrungen mit der Nutzung von Technologien für die Personalbeschaffung?
Fr. Wohlfender ist davon überzeugt, dass man um das Digitalmarketing im Personalwesen nicht herumkommt. Der Berufsverband, SBK, hat mit e-log ein Tool dazu geschaffen.
Wo sehen Sie aus Ihrer Sicht Vorteile in der digitalen Rekrutierung? Was sehen Sie bei der digitalen Rekrutierung als möglicherweise kritisch an?
Bei Onlinebewerbungen sieht sie den Vorteil darin, dass Arbeitgebende das Profil vorab definieren können und so gezielt das ideale Profil gefunden werden kann. Der Nachteil liegt ihrer Meinung nach darin, dass man all die potenzielle Fachkräfte verliert, die nur in einem Teilbereich über die geforderten Kompetenzen verfügen, aber über gute Softskills verfügen. In anderen Worten bedeutet das, dass Menschen mit Softskills oder spezifischen Fähigkeiten durch das Raster fallen. Grundsätzlich findet sie die Idee der App eine Unterstützung regional einfach in der Nachbarschaft zu finden praktisch, weil die heutigen Wohn- und Lebensformen wenig nachbarschaftlichen Austausch zulassen. Kritisch sieht Fr. Wohlfender das Thema der Pflegemigration durch digitale Rekrutierung: «Wir wollen nicht, dass man aus Zweit- oder Drittstaaten Personal abzieht, nur weil wir bessere Löhne zahlen können.» Das gilt es unbedingt zu vermeiden. Eine länderspezifische Abgrenzung ist deshalb wichtig und gut. Unbedingt müssen die Rechte der Frauen und das Arbeitsgesetz auch bei der digitalen Rekrutierung eingehalten werden.
Worauf muss die HEROES-App im Hinblick auf die Qualitätssicherung von Dienstleistungen und die Suche nach geeignetem Pflege- und Betreuungspersonal achten?
Um die Qualitätssicherung der App sicherzustellen, braucht es ihrer Meinung nach, klar formulierte Aufträge bzw. Stellenangebote, die genau beschreiben, welche Dienstleistung erwartet wird. Interessierte müssen aus dem Auftrag und den Bedürfnissen heraus entsprechende Personen mit entsprechenden Kompetenzen erkennen. Auch die Beziehung zwischen Pflegenden und Leistungsempfänger*in muss berücksichtig werden, da es in der Pflege und Betreuung immer um Beziehung geht. «Die Definition des Auftrags und den entsprechenden Bedürfnissen muss für alle klar sein. Dazu braucht es einen schriftlichen Vertrag, der Lohn, Arbeitszeit, Sozialleistungen, Kündigungsfrist, Kost und Logis, etc. klar und verbindlich regelt».
Weiter schlägt Fr. Wohlfender vor ein Leumundszeugnis einzufordern und Arbeitszeugnisse sowie Referenzen einzuholen. Zudem ist es für den Auftraggeber oder den Pflegeempfänger wichtig zu wissen, dass sich in der Schweiz nur jemand mit tertiärer Ausbildung selbstständig machen darf. Es ist sowohl auf Seiten der Auftraggebenden wie auch Auftragnehmenden wichtig zu wissen, welche Kompetenzen und Ausbildungen es für welche Tätigkeiten und Aufgaben braucht (siehe auch weiter unten bei weiterführenden Links). Curaviva hat hierzu einen Überblick erstellt. Daher findet es Fr. Wohlfender wichtig, dass Ausländer*innen ihre Abschlüsse in der Schweiz durch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) anerkennen lassen. Wenn man jemanden aus dem Ausland rekrutiert, empfiehlt Fr. Wohlfender, dass Arbeitgebende die SRK Anerkennung einholen. Dieses Vorgehen sichert die Pflegequalität und schützt vor negativen Überraschungen.
Könnte eine solche Plattform wie HEROES aufgrund ihres flexiblen Arbeitszeitmodells professionelle Pflegefachpersonen motivieren, in ihren Beruf zurückzukehren (z. B. nach Mutterschafts-/Vaterschaftsurlaub oder Ruhestand)?
«Es muss uns irgendwie gelingen Mütter/Eltern wieder in den Beruf zurückzuholen. Es steigen nicht mehr so viele ganz aus, die meisten Mütter sind heutzutage Teilerwerbstätig. Und die Pflegearbeit muss so attraktiv bleiben, dass sie wieder zurückkommen. Bessere Bezahlung von Schichtdiensten, geregelte und bedürfnisgerechte Dienste. Nur so gelingt es, denke ich, den Fachkräftemangel zu beheben. Angebote für Wiedereinsteiger*innen und auch Quereinsteiger*innen müssen Platz in den Bildungsstätten finden. Aktuell unterstützen Bund und Kantone die Wiedereinstiegskurse finanziell.
Schlusswort:
«Das Projekt Heroes kann ich insofern unterstützen, weil wir neue Ideen entwickeln müssen, um die Herausforderungen der demographischen Entwicklungen und dem entsprechend höheren Pflegebedarf gerecht zu werden. Wie schaffen wir es, dass wir die Versorgung der älteren Menschen sicherstellen können? Es stellt sich auch die Frage, ob es zum Modell der jetzigen Langzeitpflege in den Alters- und Pflegeheimen Alternativen braucht. Ich persönlich möchte mein Alter selbstbestimmt leben können. Ein gutes soziales Umfeld, ein wohlwollenes unterstützendes Miteinander und die Selbstfürsorge unterstützen sicherlich im Alter das Gesundbleiben und die Pflege zu Hause bis zum Lebensende».
Weiterführende Links:
Überblick über die Kompetenzprofile der unterschiedlichen Ausbildungen in der Pflege
Übersicht heutige und altrechtliche Ausbildungen im Bereich des Gesundheitswesens
Wer ist berechtigt, welchen Titel zu tragen?