Die Rekrutierung von Pflegefachkräften stellt in ganz Europa eine Herausforderung dar. Monica Moldovan, die Koordinatorin des HEROES-Projekts, diskutierte mit der Vertreterin der Europäischen Kommission, Frau Katarina IVANKOVIC-KNEZEVIC - Direktorin für soziale Rechte und Eingliederung (GD EMPL), über die Herausforderungen und Möglichkeiten, sie zu überwinden.
- Welches sind Ihrer Meinung nach die Herausforderungen bei der Einstellung von Langzeitpflegepersonal ( Pflegefachkräfte, Betreuer*innen usw.) in der EU?
Lassen Sie mich zunächst das Arbeitsplatzschaffungspotenzial des Langzeitpflegesektors hervorheben, das insbesondere durch die alternde Bevölkerung bedingt ist. Um das derzeitige Niveau der Langzeitpflege aufrechtzuerhalten, werden viele Länder in den kommenden Jahrzehnten die Zahl der Beschäftigten in der Langzeitpflege erhöhen müssen. Die Projektionen der Kommission zeigen, dass bis zum Jahr 2050 mehr als 1,6 Millionen Arbeitskräfte in der Langzeitpflege benötigt werden, um den Versorgungsgrad auf dem gleichen Niveau zu halten.
Der Hauptgrund für den Arbeitskräftemangel in diesem Sektor sind niedrige Löhne und schwierige Arbeitsbedingungen. Im Jahr 2018 lagen die Durchschnittslöhne für Beschäftigte im Sozialwesen, die hauptsächlich in der Langzeitpflege tätig sind, 21 % unter dem durchschnittlichen nationalen Stundenlohn.
Schwierige Arbeitsbedingungen tragen ebenfalls dazu bei, die Attraktivität des Sektors zu verringern. So sind beispielsweise Abend-, Nacht- oder Wochenendschichten im Bereich der Langzeitpflege üblich. Auch die Art der Verträge ist für viele Erwerbstätige eine Herausforderung, denn 42 % von ihnen arbeiten unfreiwillig Teilzeit. Viele von ihnen können keine Vollzeitstelle in diesem Sektor finden - dies gilt für 30 % der Beschäftigten in der häuslichen Pflege und für 20 % der Beschäftigten in der stationären Pflege. Schließlich ist ein Drittel der Beschäftigten in der Langzeitpflege negativem Verhalten ausgesetzt, welches bis hin zu verbalen und körperlichen Übergriffen reichen kann. Infolgedessen sind viele von ihnen gefährdet, psychische Probleme zu entwickeln.
2. Welche Politiken und Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen und zur Verbesserung der Rekrutierung von Pflegepersonal zieht die Europäische Kommission in Betracht?
In Anbetracht der unterschiedlichen Situationen und Ausgangslagen in den Mitgliedstaaten wird ein einheitlicher Ansatz nicht funktionieren, und daher werden die politischen Antworten von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Dennoch gibt es in vielen Mitgliedstaaten gemeinsame Einstellungsprobleme.
Daran gemessen, dass die Löhne in der Langzeitpflege in fast allen Mitgliedstaaten vergleichsweise tief und die anspruchsvollen Aufgaben und Arbeitsbedingungen sowie der gesellschaftliche Wert der Langzeitpflege nicht vorteilhaft sind, dürfte eine Anhebung der Löhne im Langzeitpflegesektor dazu beitragen, Langzeitpflegekräfte zu gewinnen und zu halten.
Um den Beruf der Langzeitpflege attraktiver zu machen, ist es auch wichtig, die beruflichen Standards zu stärken, die den Pflegekräften Karriereaussichten bieten. Bessere Erstausbildung und Weiterbildung sind erforderlich, um derzeitige und künftige Arbeitskräfte in der Langzeitpflege zu qualifizieren. Weiterbildung, Umschulung, Anerkennung von Qualifikationen, die Nutzung von Mikroqualifikationen und individuellen Lernkonten sowie Informations- und Beratungsdienste können den Einstieg in die Langzeitpflegeberufe erleichtern.
Proaktive Einstellungsmaßnahmen zur Vergrößerung des Pools potenzieller Arbeitskräfte in der Langzeitpflege können ebenfalls geprüft werden, insbesondere um junge Menschen für Pflegeberufe zu gewinnen, u. a. durch die Gestaltung und Verbesserung der Erstausbildung und Weiterbildung und durch den Aufbau von Karrierewegen im Pflegesektor. Solche Maßnahmen könnten auch die Umschulung von Arbeitskräften in anderen Sektoren, die von Entlassung bedroht sind, die Anerkennung und Validierung der Fähigkeiten und Qualifikationen von informellen Pflegekräften und die Einstellung von Drittstaatsangehörigen umfassen.
Während die meisten Kompetenzen in diesem Bereich bei den Mitgliedstaaten liegen, bietet die Kommission gezielte Unterstützung, einschließlich Finanzierung und technischer Hilfe für Reformen in diesem Bereich, Aktivitäten zum gegenseitigen Lernen, bessere Daten und Fakten sowie Monitoring. Die EU-Rechtsvorschriften zu Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und zum Arbeitsrecht, wie die Arbeitszeitrichtlinie und die Richtlinie über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, gelten für alle Erwerbstätigen in der EU, einschließlich derjenigen im Langzeitpflegesektor, und schützen sie.
In diesem Herbst wird die Kommission die Europäische Pflegestrategie vorlegen, die sich mit den Herausforderungen sowohl für Pflegende als auch für Pflegebedürftige befassen wird, von der Kinderbetreuung bis zur Langzeitpflege. Die Strategie wird einen Rahmen für politische Reformen setzen, um die Entwicklung einer nachhaltigen Langzeitpflege zu steuern, die einen besseren und erschwinglicheren Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen für alle gewährleistet. Sie wird auch dazu beitragen, die Situation von Langzeitpflegekräften zu verbessern. Die Strategie wird von einem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Langzeitpflege begleitet werden.
3. In den EU-Ländern besteht ein erheblicher Mangel an Pflegepersonal, was dazu führt, dass einige Länder (darunter Rumänien) zu Anbietern von ausgebildeten Pflegekräften werden, während andere (z. B. Österreich, die Schweiz usw.) zu Empfängern werden. Wie ist Ihr Standpunkt zur Arbeitsmigration?
Berufe im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege gehören in der Tat zu den Berufen, in denen häufig ein Mangel festgestellt wird. Die EU-interne Arbeitskräftemobilität kann hier eine gewisse Unterstützung bieten. Es ist jedoch wichtig, dies ins Verhältnis zu setzen: Etwa 3,4 % (oder 7 Millionen von 203 Millionen) der gesamten Arbeitskräfte in der EU werden von EU-Bürgerinnen und -Bürgern gestellt, die außerhalb ihres Heimatlandes leben. Dazu kommen noch die Pendler und die entsandten Arbeitskräfte.
Die Statistiken zeigen, dass die Arbeitskräftemobilität im Bereich der menschlichen Gesundheit mit der in anderen Sektoren vergleichbar ist. Es ist nicht zu erkennen, dass die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Langzeitpflege mobiler sind als andere Arbeitnehmer. Das Problem ist also nicht die Mobilität der Arbeitskräfte, sondern der allgemeine Arbeitskräftemangel. Die wichtigsten Instrumente zur Änderung dieser Situation sind bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in diesem Sektor.
Es wäre ein Fehler, die Arbeitskräftemobilität für den Fachkräftemangel verantwortlich zu machen, denn die meisten Mängel sind struktureller Natur. Das bedeutet auch, dass die Arbeitskräftemobilität allein nicht ausreichen wird, um die strukturellen Probleme in den Zielländern zu lösen.
4. Wie sehen Sie die Rolle der Technologie bei der Verbesserung der Rekrutierungspraktiken in der Pflegebranche?
Der digitale Wandel bietet zahlreiche Vorteile, auch für Beschäftigte im Langzeitpflegesektor. Zwar kann die Technologie die menschliche Interaktion, die im Mittelpunkt der Pflegearbeit steht, nicht ersetzen, doch können innovative digitale Lösungen den Zugang zu qualitativ hochwertigen und erschwinglichen Pflegedienstleistungen verbessern und ein unabhängiges Leben fördern.
Automatisierung und Digitalisierung können die Arbeitsproduktivität in diesem Sektor erhöhen. Technologie kann bestimmte Aufgaben der Pflegefachkräfte übernehmen und sie bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen, indem sie das Fallmanagement, das Heben von Patienten, die elektronische Dokumentation und die Überwachung von Pflegebedürftigen zu Hause erleichtert, wobei die Datenschutzrechte der Nutzenden gewahrt bleiben. Die finanziellen und zeitlichen Reisekosten können durch Telecare-Optionen und Fernkommunikation mit den Nutzern von zu Hause aus reduziert werden.
Technologie kann auch die Rekrutierung, Bindung und Schulung von Pflegepersonal erleichtern. Studien zeigen, dass sich die Mitarbeiterbindung verbessert, wenn es eine bessere Abstimmung zwischen Kunde und Mitarbeiter, mehr Kontrolle über die Schichtplanung und eine effizientere Personalbesetzung gibt. Bei der Rekrutierung kann die prädiktive Analytik erfolgreich Kandidaten identifizieren, die am besten für eine Karriere im Pflegesektor geeignet sind. Algorithmen für die Rekrutierung, die eine Datenanalyse für eine wertebasierte Rekrutierung durchführen, können die Kandidaten identifizieren, die wahrscheinlich gerne Pflegekräfte werden und bleiben.
5. Wie kann das HEROES-Projekt Ihrer Meinung nach zur Lösung von Einstellungsproblemen beitragen?
Ich freue mich über Initiativen, die den intelligenten Einsatz digitaler Technologien zu Rekrutierungszwecken aufzeigen. Digitale Plattformen können die Rekrutierung von Pflegekräften auf schnelle und kostengünstige Weise erleichtern - der Pflegesektor hat das Potenzial, sich weiterzuentwickeln und innovative digitale Lösungen zu implementieren. Das in diesem Projekt verwendete Modell ist ein interessantes Beispiel dafür, wie der Langzeitpflegesektor vom Wissen und den Erfahrungen der Gemeinschaft, einschließlich anderer Pfleger und Pflegebedürftiger, profitieren kann. Es kann auch Freiwillige dazu ermutigen, sich auf Gemeindeebene zu engagieren. Die Unterstützung der Stimme der Pflegebedürftigen und ihrer Familien kann die Qualität der angebotenen Pflegedienste verbessern. Letzten Endes geht es darum, Menschen zusammenzubringen und es allen zu ermöglichen, sich zu entfalten. Ich hoffe, dass wir in dieser Hinsicht noch viele inspirierende Projekte sehen werden!